Folge 2: Helmut Zierl

„Bist du der Sohn vom neuen Bullen?“ – Als Sohn eines Polizisten wuchs Helmut Zierl gut behütet in schleswig-holsteinischer Idylle auf. Weil er in der Schule mit Haschisch handelte, schmiss ihn der Vater zuhause raus. Zierl schlug sich bis nach Brüssel und Amsterdam durch, lebte auf der Straße und sammelte Erfahrungen im Drogen- und Sektenmilieu; eine für ihn prägende Zeit, in der der Tod ein ständiger Begleiter gewesen sei. „Wenn einem mit 16 Jahren innerhalb von drei Monaten vier Menschen, die man lieb gewonnen hatte, wegsterben, dann ist das ein Schock fürs Leben. Ich kriege die Bilder nicht mehr aus dem Kopf.“ Schließlich kehrte Zierl in die Heimat zurück, „weil ich damit völlig überfordert war“. Später wurde er zu einem der gefragtesten Schauspieler Deutschlands.

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Obdachlos mit 16 | Helmut Zierl | Im Angesicht | CRIME + INVESTIGATION

Interview

Warum haben Sie sich dazu bereit erklärt, bei „Im Angesicht“ mitzuwirken? Schließlich beleuchten Sie eines der wohl dunkelsten Kapitel Ihres Lebens?

Es ist für mich im Nachhinein gar nicht eines der dunkelsten Kapitel meines Lebens. Vielmehr bin ich rückblickend froh, dass ich das alles erleben durfte. Ich wurde beim Dreh sehr detailliert über mein Buch gefragt, das vor einem halben Jahr herauskam: „Follow the Sun“. Bei „Im Angesicht“ geht es darum, mit Menschen zu sprechen, die in irgendeiner Form schon einmal kriminell waren oder mit dem Thema Kriminalität in Berührung kamen. Und in meinem Buch geht es darum, dass ich sehr intensive Drogenerfahrungen hatte. Insofern habe ich mich gerne dazu bereit erklärt, darüber Auskunft zu geben.

Mir kam auch schon der Gedanke, dass mein Buch eigentlich Pflichtlektüre an den Schulen werden sollte, denn da gibt es bisher immer nur den „Fänger im Roggen“, der in der Mittelstufe oder am Anfang der Oberstufe durchgekaut wird. Mein Buch handelt im Grunde von der Sinnsuche eines 16-Jährigen, der seinen Weg finden will und in diesem Zusammenhang viele Geschichten erlebt. Geschichten über die Liebe, und dann spielen auch die Drogen eine Rolle – in Zusammenhang mit der Musik der 70er Jahre. Ich wollte eine Hilfestellung geben für Jugendliche, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Denn die Tatsache, dass Jugendliche auf Sinnsuche sind, ist, denke ich, zeitlos.
 

Wenn Sie die Zeit zurückdrehen können: Würden Sie heute etwas anders machen? Bereuen Sie die Geschehnisse damals oder sagen Sie sich: Da habe ich doch etwas daraus gelernt?

Das kann man so nicht sagen. Ich war damals mit 16 Jahren unheimlich naiv. Ich bin da hineingestolpert. Aber natürlich, wenn ich das heutige Bewusstsein hätte, würde ich es komplett anders machen. Aber es war damals nicht steuerbar.


Sie haben damals auch auf der Straße gelebt und in einer Drogen-WG in den Niederlanden. Wie erklären Sie es sich, dass man so tief abstürzen kann? War es Rebellion, Unmut?

Das waren die Hippie-Zeiten! Es war 1971, die Hochzeit der Hippies. Und davor war Woodstock, und Jimi Hendrix und Janis Joplin starben, da sie sich eine Überdosis gespritzt und davor nur noch Tabletten-Cocktails zu sich genommen hatten. Jim Morrison starb ebenfalls. Das waren unsere Idole. Musik spielte damals eine unglaublich große Rolle. Es ging los mit den Beatles und mit den Stones, die unseren Eltern und der Generation davor ein Dorn im Auge waren. Diese Pilzköpfe, die sich die Haare immer länger wachsen ließen... Wir merkten: Wenn man die gesellschaftliche Struktur etwas aufreißen möchte – es gab damals noch viele Nazis, auf meiner Schule gab es Lehrer, die Nazis waren, 100 prozentig – deswegen zog das. Es hatte eine Sogwirkung. Man wollte so sein wie die aus Amerika, wie diese Hippies, die dort ihren Ursprung haben. Ich habe dann tatsächlich unter freiem Himmel geschlafen, im Park. Und das wochenlang. Ich habe Freunde in Belgien gefunden, bei denen ich unter hygienisch desaströsen Verhältnissen leben konnte. Ich habe unter Autobahnbrücken geschlafen. Das alles war wirklich losgelöst vom bürgerlichen Leben.
 

Wie haben Sie Ihren Kindern ihr damaliges Leben erklärt? Und wie haben diese darauf reagiert?

Wir haben schon sehr früh darüber gesprochen, als sie langsam in die Pubertät kamen. Da das Thema Drogen auch bei uns auf dem Lande präsent ist, war mir das wichtig. Ich habe ihnen erklärt, dass ich, was das angeht, einschlägige Erfahrungen hatte, dass sie aber sehen können, dass man das Handeln und so damit umgehen kann, dass man alles hinter sich lässt. Und trotzdem seinen Weg und den Sinn seines Lebens findet.
 

Wollten Sie, dass Ihre Kinder nicht die gleichen Erfahrungen machen und nicht in Kontakt mit Drogen kommen? Waren Sie da sehr streng oder liberal?

Ich habe ihnen abgeraten, aber ich war sehr liberal. Meine Eltern haben mir das mit den Drogen damals strikt verboten. Und genau das löst Widerstände bei Pubertierenden aus. Bei mir zumindest hat das damals große Widerstände geschürt. Ich habe meinen Kindern klipp und klar gesagt, dass es mir lieb wäre, wenn sie die Finger davonließen. Ich habe aber auch gesagt, dass, wenn sie sich entscheiden müssten zwischen leichten Drogen wie Haschisch oder Alkohol – denn ihre Freunde hatten damals ziemlich viel mit Alkohol zu tun – dann wäre es mir fast lieber, sie würden kiffen als sich sinnlos zu besaufen. Denn Alkohol ist die wesentlich gefährlichere Droge.
 

Das Buch war ein längeres Projekt? Sie haben zehn Jahre daran geschrieben. Warum hat es so lange gedauert?

Genau genommen sollte es gar nicht veröffentlicht werden. Ich habe all diese Dinge eigentlich nur für mich aufgeschrieben. Ich habe tatsächlich zehn Jahre gebraucht. Nicht weil ich so faul war (lacht), sondern weil ich es zum Teil jahrelang zur Seite gelegt hatte. Es war auch schmerzhaft. Dieses Schreiben war eine verrückte Erfahrung für mich gewesen. Es gab auf dieser Tramp-Tour auch Todesfälle, es gab große Lieben... Ich musste mich immer wieder komplett neu einfinden. Mein Langzeit-Gedächtnis ist scheinbar phänomenal: Die Diskussionen, die Gespräche damals - ich konnte alles wiederherstellen. Aber das war wie gesagt zum Teil so schmerzhaft, dass ich es dann wieder für zwei Jahre in die Schublade gelegt habe. Weil ich mir gesagt habe: Das tue ich mir nicht an. Aber dann war der Wille bzw. die Neugierde wieder stärker, weil ich diese Geschichte nicht loslassen konnte. So etwas bleibt in einem. Es war ein unfassbarer Befreiungsschlag für mich, als ich endlich mit dieser Geschichte fertig war. Es war wie eine Erlösung: ‚Jetzt kann ich loslassen, jetzt ist es niedergeschrieben.‘ Ich habe Freunde gefragt: ‚Soll ich das überhaupt veröffentlichen?‘ Und alle haben gesagt: ‚Ja, unbedingt!‘ Auch wenn es auch intime Geschichten waren. Und in gewisser Weise auch ein Outing. Ich habe ein völlig anderes Image in der Film- und Fernsehbranche. Das war mir aber egal. Ich wollte, dass man die Wahrheit erfährt.
 

Wie waren die Reaktionen? Sie spielen in vielen „Heile Welt“-Produktionen. Hatten Sie keine Angst, dadurch vielleicht Jobs zu verlieren?

Ich übe diesen Beruf schon seit 46 Jahren aus. Ich habe keine Angst mehr vor einem Karriereknick. Kollegen lesen ohnehin nicht die Bücher ihrer Kollegen (lacht). Und was die Zuschauer angeht: Von meinem Stammpublikum beim Fernsehen habe ich eigentlich nur positive Reaktionen bekommen. Und auch ganz wunderbare Rezensionen bei Amazon etc. Sie haben es mir nicht verübelt, ganz im Gegenteil sogar. Sie fanden es mutig, dass ich damit an die Öffentlichkeit gehe.
 

Wollten Sie zeigen, dass es jedem passieren kann, mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, auch jemandem ohne kriminelle Energie? Aus einer Sucht heraus zum Beispiel?

Ich war nicht süchtig. Das war ich nie, ich habe ja auch nicht gefixt. Ich habe damals LSD und Meskalin konsumiert. Aber natürlich: Wenn du dann auf der Straße lebst, dann schlitterst du in solche Graubereiche hinein. Zum Beispiel haben Tunesier mich überredet, Fake-Uhren von Cartier und Rolex an Touristen zu verticken. Das ist letztendlich auch schon eine kriminelle Handlung. Aber ich hatte es bereits erwähnt: Es war diese Naivität, und fand ich das völlig okay. Ich musste ja irgendwie überleben. Deshalb habe ich auch Straßenmusik gemacht. Es ist damals alles schief gegangen, was nur schief gehen konnte. Und deshalb kann ich nur froh sein, dass ich das Ganze überlebt habe.
 

Wann sind Sie zuletzt mit dem Gesetz in Konflikt gekommen? Zu schnell gefahren etc.?

Dass ich mal zu schnell fahre, das kommt alle paar Jahre mal vor. Mein Vater war Polizeibeamter. Ich bin deshalb sehr gesetzestreu aufgewachsen und hatte von ihm auch ein großes Gerechtigkeitsgefühl übernommen. Aber wenn man in seiner Jugend auf dem Land eben immer gesagt bekommt, man hätte ein Vorbild zu sein, hat es zur Folge, dass man sich wehrt und genau das Gegenteil provoziert.
 

Was ist die Message von „Im Angesicht“? Was lernt der Zuschauer?

Ich muss sagen, es war ein sehr sensibel geführtes Gespräch. Mein Interviewpartner war sehr behutsam und hat mich alles andere als sensationslüstern zu diesen Geschehnissen damals befragt. Er war sehr einfühlsam. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich werde dort öfter reinschalten, denn es war eine großartige Begegnung und Erfahrung.

 

Interview: Andrea Vodermayr