Fast 25 Jahre lang war Michel Guillaume Kriminalhauptkommissar Theo Renner in der Krimiserie „SOKO München“. Lange bevor der gefragte Schauspieler Erfolge im TV feierte, wuchs Guillaume als Kind in kriminellem Umfeld auf. Aus dieser schwierigen Zeit in seinem Leben berichtet Guillaume in „Im Angesicht“ nun erstmals vor der Kamera. „Mein Vater war ein Gangster“, so Guillaume, dessen Kindheit von Gewalt, Alkohol und Verzweiflung durch den Stiefvater geprägt war. Als Jugendlicher kam der spätere Schauspieler schließlich selbst mit dem Gesetz in Konflikt.
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Wie kam es, dass Sie bei „Im Angesicht“ als einer der Protagonisten dabei waren?
Ich wurde von den Senderverantwortlichen gefragt und fand das Thema sehr spannend. Man darf sich als Betroffener nicht in die Ecke stellen, alles verdrängen und sagen: „Ach, das wird schon alles.“ Es bedarf der Prävention. Und dazu gehört auch, dass man im Angesicht aufzeigt, was alles passieren kann und wie man vorbeugen und sich Hilfe holen kann.
Sie haben als Kind häusliche Gewalt hautnah miterlebt.
Ja. Meine Kindheit ist von häuslicher Gewalt geprägt gewesen. Nicht mir gegenüber. Meine Mutter und ihr damaliger Lebensgefährte waren beide sehr dem Alkohol zugetan. Er war Alkoholiker. Und man wusste nie: Wird es ein schöner Abend oder ein schlechter. Diese waren sehr oft von unglaublichen Gewaltexzessen geprägt. Insofern war meine Kindheit verständlicherweise alles andere als prickelnd.
Wie präsent sind diese schlimmen Erfahrungen heute noch für Sie?
Auch mit zunehmendem Alter und Abstand zu den Ereignissen sind diese Dinge natürlich immer wieder präsent. Vor allem dann, wenn man ein solches Format dreht wie „Im Angesicht“ und diese Zeit noch einmal Revue passieren lässt. Gewisse Dinge werden einem noch einmal klarer vor Augen geführt, da man heute eine andere Herangehensweise an das Thema hat als ich es damals hatte, mit elf oder zwölf Jahren. Es ging bis ich 18 Jahre alt war, bis ich ausziehen konnte. Mein Bruder war etwas älter als ich, er ist damals etwas früher gegangen, als ich 15 oder 16 war. Das alles war schon sehr prägend für uns. Wenn du nie weißt: Wird Weihnachten gut, wird Silvester gut, wird ein Feiertag gut? Es war immer abhängig davon, wie viel Alkohol geflossen ist. Alles war immer mit Angst verbunden. Und daraus resultierte es, nicht nach Hause zu wollen. Wenn nachts zu Hause immer wieder geschlägert wurde, ist dies nicht zuträglich für die Entwicklung eines jungen Menschen. Ich hatte das Glück, dass es bei mir in die andere Richtung ausgeschlagen hat. Mein Beruf hat mir auch wahninnig dabei geholfen, dies alles aufzuarbeiten.
Gegen Sie ging die Gewalt des Stiefvaters nie?
Das ist ehrlich gesagt eine Frage, die ich mir in der letzten Zeit auch öfter gestellt habe. Ich habe es jedenfalls nicht so in Erinnerung. Aber das Gehirn ist ja auch eine tolle Maschine, die so etwas in eine Schublade steckt und dann nie mehr herausholt.
Haben Sie versucht, etwas zu tun bzw. diese Gewalt gegenüber Ihrer Mutter zu verhindern?
Ich habe mich permanent dazwischengeworfen und versucht, diese Eskalationen zu verhindern! Wenn du nachts aufwachst und hörst, wie Schädel gegen die Wand geschlagen werden.... Da wacht man auf und versucht natürlich, seine Mutter zu schützen. Das würde jeder machen. Aber als junger Mensch hat man da natürlich noch ein körperliches Handicap. Es gab aber dann einen Zeitpunkt, wo ich körperlich stärker war. Und ich ihn mal richtig „durchgelassen“ und gesagt habe: „Du rührst meine Mutter nicht mehr an, sonst mach‘ ich dich platt“.
Haben Sie Ihren Stiefvater und Mutter noch Kontakt?
Zu meinem Stiefvater nicht. Zu meiner Mutter habe ich natürlich noch Kontakt. Ich pflege sie seit zwei Jahren. Sie ist ein Pflegefall, leidet an Demenz und Alzheimer.
Wie haben Sie die Dreharbeiten zu „Im Angesicht“ empfunden? Wie war es, erstmals über diese Erlebnisse vor der Kamera zu sprechen?
Ich bin relativ klar für mich mit dieser Sache. Aber natürlich, wenn man es nochmal detailliert erzählt, und es ist der ein oder andere schwere Hammer dabei, weil es auf einmal wieder so real ist, dann geht das schon tief. Und als Schauspieler ist es noch einmal eine andere Nummer. Es gibt von Lee Strasberg, dem bedeutenden Schauspiellehrer, eine Methode, das sogenannte „Sense Memory Training“, bei dem man sich negative Erinnerungen hervorholt, um schneller weinen zu können. Es gab also in meiner Schauspielzeit ein paar Situationen, auf die ich auf Knopfdruck weinen konnte. Kurz gesagt: Es war einfach eine beschissene Zeit.
Sie haben vorhin gesagt, die Schauspielerei hat Sie gerettet. Inwiefern?
Es hätte durchaus auch in die andere Richtung gehen können. Wenn ein Mensch ständig mit Gewalt konfrontiert wird, dann flüchtet er. Als junger Mensch ohnehin, wenn man keinen Halt hat. Ich habe in dieser Zeit auch den ein oder anderen Einbruch oder Mundraub begangen. Es stand auf der Kippe: Ich hätte auch ein Super-Gangster werden können – oder eben ein akzeptabler und brauchbarer Schauspieler. Gottseidank ist es in die Richtung Schauspieler gegangen.
Wo war da der Knackpunkt, dass es in die richtige Richtung ging?
Es gab ein sehr einschneidendes Erlebnis. Ich glaube, ich war ca. 14 Jahre alt. Es gab ein Casting in der Bavaria. 750 Kinder wurden gecastet, und nur vier wurden gebraucht, und ich war einer von den vieren, die genommen wurden. Es war für den TV-Film „Leutersbronner Geschichten“ unter der Regie von Hartmut Griesmayr und Monica Bleibtreu als meiner Großmutter. Ich habe damals gemerkt, dass ich etwas gefunden hatte, wo ich aus dieser kaputten Welt ausbrechen konnte. In eine Phantasiewelt. Man wurde am Set hofiert und getragen und es war natürlich alles ganz toll in dieser Scheinglitzerwelt. Es hat mir gut getan zu sehen, dass mir dies Spaß macht. Und den anderen hat es auch gefallen und sie haben mir Talent attestiert. Es war der ausschlaggebende Punkt, dass es in die andere Richtung ging.
Was raten Sie anderen Betroffenen, die Ähnliches erlebt haben oder erleben wie Sie?
Häusliche Gewalt, gerade in Verbindung mit Alkoholexzessen, ist eine absolute Katastrophe. In dieser Situation darf man nicht alleine bleiben und es auch nicht in sich hineinfressen, auch wenn es um die eigene Familie geht! Jede helfende Hand, die einem gereicht wird, sollte man ergreifen, um diese schwierige Situation durchstehen zu können. Es war so einschneidend und so brutal, aber ich bin nicht der Einzige! Es geht vielen Jugendlichen so, und bevor man daran zerbricht oder sich selbst zerstört, und das Leben anderer vielleicht auch noch, ist es wichtig, dass man sich früh Hilfe holt und sich nicht schämt. Man muss raus und sich helfen lassen. Sonst macht es einen kaputt.
Inwiefern glauben Sie kann „Im Angesicht“ anderen Betroffenen helfen?
Es ist sicherlich ein Format, das dazu beiträgt, dass Betroffene sich sagen: „Schau‘ mal, der hat es auch nicht so einfach gehabt“. Auch wenn alles so toll aussieht in der Papierglitzerplastikwelt. Ich denke, wenn man nur paar Leute erreicht, die sich dann sagen, „Hey, die haben es auch geschafft und sich Hilfe geholt oder sich da selbst rausgezogen“, dann ist es schon ein Erfolg. Warum sollte man mit solchen Geschichten hinterm Berg halten? Dinge passieren, auch solche Dinge. Wenn ich anderen damit helfen kann, rede ich gerne darüber.
Interview: Andrea Vodermayr